Freitag, 7. November 2008

Half Way Home

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....und doch meilenweit von zu Haus entfernt.
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Blick durch das bemalte Fensterglas des Half Way Home - ein Hoffnungsschimmer auf Ganzheit
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So aehnlich wie aufgewuehlter Sand in einem Glas Wasser sich erst langsam setzten muss, Korn um Korn lautlos zu Boden rieselt und die Sicht sich nur nach und nach aufklaert…, so fuehlte es sich an, als ich mich vor wenigen Tagen auf den Heimweg begab. /
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Es war einer dieser Tage, an denen ich mich darueber freute so viel Neuem zu begegnen, dann aber schwer an der unerwarteten Last zu tragen habe, als ich das aeltere Ehepaar Siromoni, dessen Bekanntschaft ich vor geraumer Zeit machte, auf ihrem sonntaeglichen Gang ins St. Paul’s Cathedral begleitete.
Allein das Lichtspiel der Sonnenstrahlen, die durch die grossen gruengefaerbten Glasfenster tanzten, das Gurren der Tauben und Surren der Ventilatoren in dieser so weiten und hellen Kirche, nahmen meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch; auch wenn sie meinem immer wachsenderen Unglauben ueber den Glauben der Menschen, die sich nicht nur einem Gott hingeben, sondern demuetig vor einem institutionellen Machtgefuege daniederknien, das sie zwischen “gut” und “schlecht” unterscheiden lehrt, waehrend doch vor den verschlossenen Toren das eigentliche Leben seinen bitter-suessen Gang nimmt, nicht vergessen liessen.
Nach einem gemeinsamen Mittagessen bei mir widerum unbekannten und doch so herzlichen Menschen, Mundharmonikaspiel und manch bengalischem Lied, begaben wir uns auf die Rueckfahrt, so zumindest der vorsaetzliche Plan, doch wurde dieser als gleich verworfen, als Joyce auf Grund eines Notfalls einen Anruf ihrer Organisation erhielt. Der sicher schon fast 80 Jahre zaehlende Paul verliess uns fuer seinen taeglichen Mittagsschlaf und wir setzten unseren Weg zweisam fort, da ich die unweit von meiner Schule gelegene Organisation ohnehin in den kommenden Tagen besuchen wollte.
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Das Half Way Home "Paripurnata" (hope for wholeness) ist eine Art Zwischenstation fuer psychisch kranke Frauen, die Joyce vor vielen Jahren gruendete und dort mit Hilfe von Aerzten, Psychologen und Kuenstlern nicht nur fuer das Wohlergehen und bedingte Genesen der Frauen sorgt damit sie eines Tages wieder in ihre Familien zurueckkehren koennen, sondern seitdem auch um deren Wuerde und Anerkennung als Menschen in der Gesellschaft kaempft. Dabei sind es gerade die Angehoerigen, die im Wesentlichen zur Verschlimmerung des Gesundheitszustandes beigetragen haben: viele der Frauen las man von der Strasse auf, wo man sie wie ueberdruessig gewordene Haustiere aussetzte; wurden als NCLs (non-criminal lunatics) in Gefaengnissen in Gewahr genommen – und dass, obwohl dies seit 10 Jahren per Gesetz verboten ist und ihnen eine medizinische Versorungung in speziellen Eintichtungen zusteht; oder aber sie vegetierten von Mutter, Vater oder Ehemann angekettet vor sich hin. Besonders in den Doerfern, aus denen die meisten urspruenglich stammen, in denen geistig kranke Menschen nicht selten von der ganzen Gemeinschaft todgepruegelt werden, um die in ihnen hausenden “boesen Geister” zu vertreiben, ist die Aufklaerungsarbeit bitter noetig.
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Mit dem Eintreten in das etwas grau-duestere Gebaeude und den kahlen grossen Raum, von dem aus die drei mit einfachen Holzpritschen ausgestatteten Schlafsaeale, Kueche und Duschen abgehen, glaube ich mich selbst draussen vor dem Eingang zurueckgelassen zu haben..., zumindest fuehlte es sich so an, als ich neben mir stehend die Frau auf dem Boden erblickte, die immernoch unter einem epileptischen Anfall litt. Ebenso verloren umgaben sie die uebrigen Frauen, die alle wie kleine Maedchen wirkten, auch wenn sich unter ihnen so manch 60 jaehrige Frau befand. In ihre abwesenden, leeren und dann doch wieder neugierig glaenzenden Augen zu sehen, verdeutlichte mir erneut sehr eindringlich, was fuer ein unvorstellbarer Unterschied zwischen der aeusseren Huelle und dem inneren Leben eines Menschen herrschen kann. Ich weiss nicht genau, woran sie im Einzelnen erkrankt sind, werde es vielleicht mit der Zeit herausfinden, aber sie alle koennten ihre ganz eigene Geschichte erzaehlen…; doch diese haben sie tief in ihrem Inneren verschlossen, verletzt und vor auesserlich waltenden Kraeften wohl behuetet, in sich zu tragen gelernt.

Der stechende Geruch laesst mich nicht mehr los und die erdrueckende Mischung aus Erbrochenem, Medikamenten, Urin und dem gereichten Masala-Tee holt mich immer wieder ein. Selbst das Toben und Laermen meiner lieben 7. Klaessler – in geballter Kraft 70 an der Zahl – (die es nach nahezu zehn Minuten ueberraschender Weise doch fertig bringen, einen Kreis zu bilden, mich aber stark daran zweifeln lassen, wie es uns in kaum mehr einem Monat moeglich sein soll das Theaterstueck auf die Beine zu stellen) koennen daran nur voruebergehend etwas aendern.
Ich kam mir so unsagbar nutzlos vor, wie ich umringt von zwanzig Frauen trotzdem verloren allein im Raum stand, laechelte, mit Fuessen und Haenden kommunizierte und mir staunend durchs Haar fahren liess, waehrend die Glieder der vor mir auf einer Plastikplane liegenden Frau immernoch zitterten und man zum dritten Mal darum bemueht war, ihre Windel zu wechseln… Aber vielleicht - und ich suche verzweifelt nach Erklaerungen, die mir meine Hilflosigkeit weniger kalt entgegen schlagen lassen - ist dies wirklich das Einzige, was ich in derartigen Momenten tun kann – mit den Menschen zu lachen und reden; mich denen zu widmen, die gerade nicht leiden, sie abzulenken und wider allen Unterschieden und misslichen Umstaenden das Band der Waerme zu spueren. Deshalb zog es mich gestern nach der Schule wohl wieder zu ihnen und ich werde sie von nun an auch zwei, drei mal woechentlich nach oder vor der Schule besuchen (“so zum Ausgleich” :D) um mit ihnen Zeit zu verbingen und Joyce bei sich angehaueften Bueroarbeiten behilflich zu sein. Nicht nur, weil ich es ohnehin versprochen hatte, sondern vielmehr, weil ich mir die Zeit nahm zu zulassen, dass es mich verletzte und verstoerte, die mich beruehrende aufrichtige Naehe aber staerker ist und bei weitem ueberwiegt.

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Als nach langem Warten feststand, dass der Kunstlehrer nicht mehr auftauchen wuerde, verbrachte ich die Stunde mit den Frauen - auch wenn es schon ein wenig merkwuerdig ist, dass auf einmal ich diejenige bin, welche auf Wunsch Flugzeuge, Menschen und Schweine zum Ausmalen vorzeichnet...

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An manch viel zu fruehem Morgen, wenn die Sonne gerade im Begriff ist aufzugehen, sitze ich auf der Kreidemauer des Schuldaches, lasse meine Beine in luftig-leichter Hoehe baumeln und meinen Blick ueber Fluss, gruene Palmen, sandige Wege und hin zu den ersten Arbeitern, die Stein fuer Stein ihre Karren beladen, schweifen und frage mich, ob all dies die Wirklichkeit ist, ob ich wirklich erlebe oder vielmehr allen Momenten und Eindruecken durch mein Sinnen und Schreiben eine Gestalt verleihe, die ausschliesslich meiner Fantasie entspringt.
Doch dann schlendere ich durch ueberfuellte Strassen, weiche kopflosen Busfahrern aus und ziehe meinen Fuss gerade noch rechtzeitig schuetzend vor dem schweren Rad einer mit Waren bepackten Rickshaw zurueck und erblicke in die naechsten Gasse biegend einen kleinen, nackten Jungen vor seiner Huette hocken… Unbekuemmert, mit einem Stock Kreise in den Sand zeichnend, verrichtet er versunken seine morgendliche “Toilette”, waehrend sich ihm von Hinten unbemerkt einer der verwahrlosten Hunde naehert und fast zeitgleich gierig auffrisst, was er in Form eines gelblich-braunen Haufens ausscheidet. In diesen Momenten, in denen ich gar keine Zeit habe mich darueber zu wundern, dass meine Faszination keinen Raum fuer den Anflug eines Ekelgefuehls laesst, bin ich mir dessen gewiss - dass dieses Leben wahrlich so wirklich wie die Fiktion selbst ist und es vergebens ist, das Absurde in Frage stellen zu wollen.