Freitag, 26. September 2008

Marschieren will gelernt sein!

Oh wie lang, wie oft und intensiv habe ich mich in der zurueckgelassenen Heimat meinen Aengsten und Befuerchtungen gestellt, dachte ich an die von Bettlern gesaeumten Strassen Indiens… Wie oft schnuerte es mir meine Sinne zu, wenn ich erkennen musste, dass die durch derartige Bilder hervorgerufenen Emotionen mich zu ersticken drohten und mich dazu veranlassten, mein Vorhaben aufrichtig in Frage zu stellen, da sich mir kein Licht im verschleierten Rausch dieser Ohnmacht aufzeigen wollte?

Es sollte anders kommen; ganz, ganz anders, als mich meine Wege durch die unueberschaubare Stadt, vorbei an Barbieren; kleinen beweihraeuhcherten Tempelbuchten; bewundernswerten Bambuskonstruktionen, die nur darauf warten anlaesslich des nicht mehr lang ausstehenden Durga Pujabs, DEM Festival Kolkatas, reich mit Blumen geschmueckt zu werden; auch entlang eines Cafes fuehrten, in dem sich die besserbemittelten Inder an westlichen Suessigkeiten labten. Auf der anderen Seite, vor der die beiden Welten abgrenzenden, durchsichtigen und doch unzerbrechlichen Scheibe aus Glas, die nicht mehr als einen hoehnischen Blick gewaehrte, standen zwei in Lumpen gekleidete Kinder, die ihre Koerper gegen das Fenster pressten, waeherend sie immerzu die gleiche Hanbewegung mimten und ihre kleinen schmutzigen Finger zu ihren Muendern fuehrten. Es kann sich nur um den Bruchteil einer Sekunde gehandelt haben, in dem das Maedchen mich erblickte und ihr ihre doch so perfekt sitzenden Gesichtszuege entglitten, sich zu einem teuflischen Grinsen verzogen, welches mich noch Tage spaeter erschaudern lassen sollte und den Jungen ganz aufgeregt, in dem Glauben von mir unbemerkt zu sein, auf mich aufmerksam machte. Das “Spiel” erneut aufnehmend stuerzten sie sich auf mich, klammerten sich jeder an einen meiner Arme und brachen in mitleidserregendes Jammern aus. Ich jedoch verfiel in ein schallendes (sicherlich nicht nur sie, sondern auch alle anderen, mich umgebenden Menschen verstoerendes) Lachen - nein, kein Meerschweinquiecken, sondern ein wirkliches, starkes, tief aus mir hervorquellendes und erloesendes Lachen - dass die Farce vervollkommnete. Dabei bin ich mir sehr wohl dessen bewusst, dass diese Kinder, wenn auch mittels der Kunst des Schauspiels ausgeschickt und dazu angehalten ein paar Rupien zu ergattern, trotz alledem kein erfuellteres Leben haben, wenn sie am Abend in ihre von spaerlichem Kerzenschein erhellte Huette kehren – einstudierte Darbietung hin oder her!

Viel erschuetternder hingegen – und dies traf mich ebenso unerwartet wie meine Reaktion auf die bettelnden Kinder – ist das Bild, welches sich mir darbietet, wenn ich auf dem Weg zur Bibliothek durch das Treppenhaus der Schule gehe und in dem ein oder anderen Klassenraum etwas laenger verweile. Ich bin weder eine studierte Lehrerin, noch ausgebildete Erzieherin – auch ist mir das bedingungslos-gebende Muttersein fremd und dennoch fuehle ich aufrichtig, wie falsch es ist, die Kinder zu Marionetten heranzuziehen, die folgsam und anstandslos den Anforderungen entsprechen sollen um sittsam in dem gedachten System, einem System, dessen Sinn sich mir nicht erschliessen will, zu erwachsen.

Es ist die staendige Betonung von unerbitterlicher Disziplin und Ordnung, einer aufoktruierten, jedoch keiner, der Naeherboden geschaffen werden wuerde um freimuetig und stolz zu reifen, welche den Schulalltag bestimmt und die Einhaltung derer das eigentliche Lernen in den nebligen Hintergrund treten laesst… Doch wie gebe ich der Lehrerin einer Gruppe von 4-Jaehrigen zu verstehen, dass der rote Haendeabdruck auf dem kleinen braunen Aermchen eines Maedchens, nachdem es wirsch hin- und hergeschuettelt wurde, auch Spuren auf meinem Herzen hinterlaesst und mir jedes Wort versagt? Wie lasse ich widerum eine andere Erzieherin einer mit 30 3-Jaehrigen Maedchen und Jungen viel zu grossen Gruppe, ungeachtet des Strom - und daher Ventilatorausfalls – zu stillem, reglosen Sitzen auf den Holzstuehlchen aufgefordert, wissen, dass ein lautstarkes Knallen mit dem Lineal und ein Zurechtweisen mit eben diesem, was unausweichlich dem Einpferchen von Ferkeln gleicht, vielleicht fuer den Moment Ruhe einkehren laesst, jedoch etwas viel kostbareres einbuesst – unantastbare Menschlichkeit?!

“In Deutschland halten wir das aber nicht so!”, ja, in Deutschland… in Deutschland sind die Kindergartengruppen auch nur halb so gross; in Deutschland besteht ein Kindergarten nicht aus einem einzigen, schlichten Raum, sondern umfasst ein weites Gelaende von Wiesen und Klettergeruesten, wo im Nachbarraum eine andere Klasse nicht beim Auswendiglernen gestoert wird, wenn man lacht, tobt und schreit; in Deutschland muessen Kinder im Alter von 4 Jahren nicht schon Lesen, Rechnen und Schreiben koennen und die ersten Worte einer Framdsprache erlernen, denn in Deutschland ist man mit allen Mitteln darum bemueht ihnen etwas zu gewaheren, was hier nicht einmal als blosse Idee existiert – eine unbeschwerte Kindheit.

Sehr vorsichtig habe ich eines Abends dann doch den Vorstoss gewagt und Purtul, die Lehrerin, welche das Lineal als verlaengerte Hand zu gebrauchen pflegte, darauf angesprochen, dass es mir schwer faellt daran zu glauben, dass dies der richtige Umgang mit den Kindern sei und sie selbst spueren lassen, was fuer einen Unterschied es doch macht, wenn ich ein Kind mit einem Stock auf seinen Platz weise, oder aber es sanft mit meiner Hand zu seinem Stuhl geleite. Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, dass sie nie wieder zu diesem hoelzernen Utensil greifen wird, doch sah sie fuer den Moment bedaechtig nickend ein und am Wochenende wollen wir gemeinsam ein Memory-Spiel basteln, damit die Kinder beim naechsten Stromausfall anders beschaeftigt werden koennen, als stumpf auf ihren Plaetzten zu verharren.

Dass ich als Represaentantin der Schule, da die gesamte Lehrerschaft ihre Zeit in die Beaufsichtigung der Examen stecken musste, der ins Haus flatternden Einladung zu einer Dokumentation des indischen Schulsystems der “Teachers Foundation” folgen konnte, oeffnete mir nicht nur die Augen, sondern liess mich vorallem erkennen, dass meine Glaube daran, an einer entwuerdigenden Schule gelandet zu sein, mit Nichten der Realitaet entspricht. Was ich in dem 45 minuetigen Filmabschnitt, der ohne in “Weiss” oder “Schwarz” zu unterteilen einen Gesamtbild unterschiedlichster indischer Schulen aufzuzeigen beabsichtigte sah war schockierend, verstoerend und von mir als laengst vergangen gelaubt: Schueler, die in Reih und Glied zum morgendlichen Apell antreten muessen, deren Haar, Schuhe und Uniform auf makellose Reinlichkeit geprueft werden; Kinder, die grob aus der Masse gezerrt werden, wenn sie nicht stramm genug stehen und brave Maedchen “besserer Schulen”, deren Koepfe akkurate Zoepfe ziehren, die von der Notwendigkeit nie in Frage gestellter Disziplin sprechen… Es sind die Lehrer, wenn auch sie nur Opfer einer mangelhaften Ausbildung sind, die ihren Zoeglinge das “Rechts, links, recht, links…” einzahelen und sie vor die Wahl stellen, ob sie zuegellosen Pferden, oder aber stolzen Soldaten gleichen wollen. Der Film sprach fuer sich, doch die ersten, erleichternder Weise die einzigen dieser Art, Worte des Mannes neben mir, der sich in der anschliessenden Diskussion elanvoll erhob und verkuendete, “dass diese Bilder eindeutig verdeutlichen wuerden, dass wir unsere Schueler besser unter Kontrolle bekommen muessten”, bildeten leider kein zynisches Gegenstueck, sondern stehen stellvertretend als ernstgemeinter Ausdruck fuer ein Land und dessen Menschen, welches glaubt dem fernen Westen nur so, mittels unangefochtener Duldsamkeit, Fleiss, Gehorsam und Ergebenheit langsam, in kaum merklichen Schritten, entgegen zu gehen.

Dienstag, 16. September 2008

auf eines bunten Vogels Schwingen






Das purpurfarbene “Made in India” H&M T-Shirt ist einer umso vieles indischeren Kurta gewichen; die Finger meiner rechten Hand nehmen durch die Gewuerze des Essens mit jedem Tag einen tieferen Gelbton an; die Herausforderung einer andauernden Erkaeltung im Land ohne Toilettenpapier, in dem folglich auch Taschentuecher fuer Aufsehen sorgen, ist endlich bravouroes gemeistert und an den Oelfilm, der den ganzen Tag ueber die Haut ummantelt, habe ich mich schon so weit gewoehnt, dass es sich viel merkwuerdiger anfuehlt, mit frisch gewaschenen Haaren der anstehenden Arbeit nachzugehen... - auf, auf in das Land der ungeahnten Gegensaetze!


Ami murgi kaina! – Ich esse kein Huehnchen... Was mich zu meinen ersten Worten in Bengali motivierte, kostete das gefederte Vieh das Leben und haette mir durch die Haende des Kochs, der den beiden Tieren die Kehle so lange zudrueckte, bis auch das letzte Zucken aus ihren Beinen schwand, nicht eindringlicher vor Augen gefuehrt werden koennen... Schnell reihten sich auch Fisch und Ziege ein und ich musste ernuechternd feststellen, dass die Menschen hier keineswegs, wie erwartet, von einem alles dominierenden Respekt vor lebendigen Wesen erfuellt sind und es sie vielmehr verwundert, wie es sich von Gemuese allein leben laesst, so dass meine Speisen vorsorglich zusaetzlich mit besonders viel Oel angereichert werden um den Kalorienbedarf eines Tages zu decken, nein, bei weitem zu ueberschreiten – keine Rede mehr von einer blossen Schuessel Reis am Tag :).
Auch auf die obligatorischen 3 Teeloeffel Zucker, welche den in einer Espressogrossen Tasse servierten Chai in ein suesses, braunes Wasser wandeln verzichtend, nehme ich sie jedoch auf wohlweissliches Antraten der Inder nach einem der regelmaessigen Hitzeanfaelle, die ihren Ursprung in meiner Unfaehigkeit die undefinierbar neuen Gemuesesorten von unscheinbaren gruenen Chilischoten - liebevoll zu EINEM Curry vermengt - zu unterscheiden, in doppelt und dreifacher Menge errettend in Anspruch und es ist keine Seltenheit mehr, dass mehrere Menschen gleichzeitig lachend mit einer Zuckerdose auf mich zugerannt kommen… Es sind besonders diese “einfachen Angestellten“ der Schule: die Koechin und ihre Tochter, die Putzmaenner, Fahrer und Nachtwaechter, welche mich stets warmherzig anlaecheln und grosse Freude daran gefunden haben keine Gelegenheit auszulassen, meine vereinzelten Bengali-Brocken Stueck um Stueck zu erweitern. Dadurch laesst sich mein Unbehagen ueber diese strikte aeussere Rollenverteilung viel, viel leichter ertragen, auch wenn es nach wie vor ungewohnt ist, mich an den gedeckten Tisch zu setzten und es als beleidigend empfunden wird, wenn ich meinen Teller selbststaendig abspuele.


In dem auch erst seit Kurzem hier arbeitenden Schuladministrator Mr. Thomas habe ich nicht nur eine der wenigen maennlichen Personen gefunden, die sich nicht als erstes nach der Existenz meines “boyfriends” erkundigte, sondern einen herzlichen, mir durch seine bedingungslos offene und ehrliche Art, die jegliche Grenzen indischer Diskretion ueberschreitet, schon jetzt sehr nahe stehenden Menschen gefunden, der mich mit ueberschwaenglicher Begeisterung in das Leben seines schillernden Kolkatas einfuehrt. Ganz eigentlich heisst er bloss Thomas, doch Respekt und Hoeflichkeit gebieten es, sich vor Kollegen und Schuelern nicht beim Vornamen zu nennen und so hallt nicht nur mir in allen Gaengen und Raeumen ein froehliches “Good Morning Mrs!” entgegen, sondern eben auch ihm, welches ich im Zuge meines so anspruchsvollen Sinnes fuer Humor auch ausserhalb der Schule beibehalte. Als mein selbsternannter neuer bester Freund liess er es sich nicht nehmen mich auf meiner ersten Suche nach einer Salvar Kameez zu begleiten, doch anstelle des indischen Gewandes, hielt ich als bald stolz meinen eigens erstandenen Helm in den Haenden und auf seinem Motorrad rauschten wir um des Momentes Willen durch das naechtliche Kolkata – uns durch die kein Ende nehmen wollenden Staus schlaengelnd, auf in das Zentrum der Stadt; vorbei am stolzen Victoria Memorial; beleuchteten Springbrunnenanlagen; den zahlreichen, kleinen gebrechlichen Imbissstaenden; den aus dem Nichts auftauchenden Baustellen und im schlammigen Wasser in Flip Flops watenden Arbeitern; der beeindruckend riesigen Hoogly Bridge und der Weite des Flusses; den Geraeuschen der Nacht entgegenfahrend…Auch die Eindruecke des heutigen Nachmittags wirken noch innbruenstig nach, hat mich der Ausflug auf dem fahrbaren Untersatz nach getaner Arbeit doch in den Norden der Stadt geweht, wo das Leben noch ein mal so viel hektischer, wuselnder und wuester braust, dass es mir unmoeglich erscheint, dass all dies wirklich eine Stadt sein soll...
Es ist schwer zu sagen, wer von uns beiden oefters jedes Mal aufs Neue Verwunderung ueber das Alter des jeweils anderen aeussert; er, der erstaunt feststellen muss, dass ich “erst 20” bin, oder ich, die nicht fassen kann, dass dieser kleine rundliche Mann, eher einer dem Erwachsenwerden trotzender grosser kleiner Junge, dem mit Schokolade und Keksen ein noch verschmitzteres Laecheln in das Gesicht zu malen ist, wahrlich schon fast 40 Jahre alt ist. Allein wenn er mich an seinem tagelichen Kampf um seine erst 8 Monate bestehende Ehe (damit ist er auch als Christ mit seiner Frau bei weitem laenger verheiratet, als er sie vorher kannte) teilhaben laesst, eroeffnet sich hinter seinen weichen Zuegen ein anderes, beschwerteres Leben.


So ist die gemeinsame Arbeit mit ihm und allen anderen Lehrern und Lehrerinnen nach einem gemeinsamen Seminar, welches uns dabei helfen sollte sensibler und eingehender mit unseren Mitmenschen umzugehen und unsere Kraft dahingehend zu erweitern uns dem “hoehren Allgemeinwohl“ zu widmen, in jedem Fall schon sehr vertraut. Da die Schueler in dieser und der kommenden Woche jedoch ihre abschliessenden Examen schreiben und sie anschliessend bis Mitte Oktober Ferien haben, gebe ich mich momentan meinem nie ganz ausgelebten Caro-Kindheitstraum-Traum hin und errichte in unserer und einer weiteren Zweigschule eine Bibliothek, etwas, dass schon seit vielen, vielen Jahren in die Tat umgesetzt werden sollte, doch stets mangelte es an Zeit oder einer geeigneten Person. Dabei ist wahrlich alles vorhanden: Buecher, die bisher, wenn ueberhaupt, nur spaerlich gelesen wurden und zur Verwahrlosung verdammt waren; einzelne wacklige metallene Regale; ein kleiner, 9 Quadratmeter messender Raum, in dem es ironischer Weise nach verbranntem Papier riecht; ja, sogar Bibliotheksausweise... Neben dem Eingeben aller Daten in den Computer und dem Fuellen der Regale mit den Wissen in sich buergenden Seiten, sind die von Neugierde getriebenen Besuche der Schueler, die sonst nur schwer zu ihrer Library Class zu bewegen waren nun, nach dem ueblichen, von Kichern begleiteten “How are you, Miss?“ an dem was ich tue und auf einmal auch den Buechern interessiert sind - Buecher, die Bildung, den Weg aus all dem, zu dem soziale Umstaende und ihre Herkunft sie verdammten, darstellen - die Momente, in denen auch die letzten Zweifel an der Bedeutung des Sortierens und Kategorisierens schwinden.
Mit dem Oktober rufen dann andere Ideen und Projekte, die in die Tat umgesetzt werden wollen, unter anderem die Gruendung eines Chors, in dem Mr. Thomas und ich mit den Kindern ausschliesslich englische Lieder singen wollen und es den Schuelern so ein viel Leichteres sein soll, sich der fremden Sprache zu naehern, sie auch zu verstehen und nicht in Form von den immergleichen Reimen herunterzubeten. Besonders freue ich mich darauf, die 4. Klaessler in Form von noch auszuarbeitenden Theaterstuecken ueber die Rechte der Kinder, ihre ganz eigenen Rechte, nicht nur zu unterrichten, sondern durch das Spiel greifbarer erleben und Teil von sich werden zu lassen. Damit habe ich mich nun endgueltig gegen die Rolle der Lehrerin entschieden und kann mir sehr viel eher vorstellen, so wie es sich in den wenigen Tagen von ganz allein entwickelt hat, eine Bruecke zwischen den Schuelern und den Lehrern sein, die in kleineren Gruppen bei Hausaufgaben, Lernschwierigkeiten oder anderen Problemen zur Seite steht, nich aber mit erhobenem Finger der Reihe nach aussortiert und vor die Tuer verbannt. Nein, fuer wahr, viel lieber moechte ich auf der anderen Seite stehen und den wagen Versuch einer Alternative darstellen, inwiefern dies auch immer moeglich sein mag...


Dienstag, 9. September 2008

Eingesogen

Als ich das erste Mal zu Papier und Stift griff, um dem Erlebten Raum zu schaffen, fuerchtete ich, dass mein Schreiben kein Ende nehmen wuerde…, doch zunehmend begreife ich, dass es vielmehr der Versuch des “Hinterherlebens” ist, welcher die satten Tage in heisse, schlaflose, keineswegs nur vom lauten Zirpen der Grillen oder dem Konzert der vom Monsun angelockten Froesche durchzogenen Naechte wandelt und sie zu einem undurchsichtigen Ganzen werden laesst.

Kaeme ich in die Verlegenheit eine einfache Frage nach meinem Befinden beantworten zu muessen, ich wuesste wahrlich nicht, was zu antworten… Es geht mir nicht gut, nein, wie koennte es auch… Beim Streifen durch enge Gassen, entlang derer verwahrloste, einfache Huetten und Zeltplanenkonstruktionen, dicht an dicht gedraengt, ganze Grossfamilien beherbergen und mich entgegen meinen ersten Eindruecken schlagartig verstehen lassen, weshalb Shourabh Mukherjee, der Gruender der Organisation, von der Gegend, in der die Familie Mukherjee und mich behausende, gleichzeitig den Sitz von YMWS darstellende Schule gelegen ist, als einer wohlhabenderen sprach. Wie haette ich auch wissen sollen, dass das Gesicht der Armut hier sehr vielfaeltig ist und sich in einzelne Nuancen verzweigt? Ich hatte ja keine Ahung…, keine Ahnung davon, wie es sich tatsaechlich anfuehlt, wenn ein Meer grosser brauner, des Lebens zum Teil mueder Augen auf der eigenen Erscheinung brennen, so dass ich mich meiner selbst schaeme; meiner Hautfarbe, der blonden Haare, meiner Herkunft und Bildung wegen, all dem, was mir durch blosse Willkuer ungerechter Weise vergoennt, ihnen hingegen niemals zugaenglich sein wird - ja, meinem ganzen Sein, Hiersein, welches diese Menschen und mich so schonungslos mit dem Anderen konfrontiert, dass es weh tut und erdrueckt und mich selbst der Faehigkeit befreiende, wenn auch ohnmaechtige und nichts, rein gar nichts aendernde Traenen zu weinen, beraubt. Doch dies waere wohl nicht das Indien in das es mich unbekannter Weise zog, wenn nicht am gleichen Tag eine Gruppe Kindergartenkinder nach anfaenglicher Schuechternheit auf mich zugerannt kaeme, um mir neugierig und augeregt, sich nach Aufmerksamkeit verzehrend, ihre Hefte entgegenzuhalten und ein jedes Mal in frohes Lachen auszubrechen, wenn ich auf ihr Fordern hin muehevoll die benaglische Bezeichnung der Bilder von Blumen und Tieren wiederholen wuerde. Es sind unter anderem diese Momente, die neue Kraft schoepfen lassen und die abendliche, von regelmaessigen Stromausfaellen bestimmte Stille mit neuen Funken des Gluecks erfuellen… Ueberhaupt habe ich mit Mr. Mukherjee, einem bald 60 Jahre zaehlenden Mann, dessen graugelocktes, wirr den Kopf umrahmendes Haar ihn so untypisch und doch wieder sehr indisch aussehen laesst, unfassbar grosses Glueck gehabt. Vor 40 Jahren hat er es sich zur Aufgabe gemacht den aermsten der Armen durch Bildung und Aufklaerung Hoffnung auf ein besseres Leben zu ermoeglichen und mit der Hilfe von Mutter Teresa, zu der ihn eine innige, langjaehrige Freundschaft verbunden hat, Stueck um Stueck guenstig Land erworben, um erste Schulen zu errichten. Seine verbissene Arbeit, die sich jeglicher Zuschuesse von seelenlosem Geld (“cold money”) entzieht, auf eigenen Fuessen steht und neben der Schule, in der wir wohnen, neun weitere, ganz unterschiedliche Projekte eint, beeindruckt mich und zeigt nur zu deutlich, dass es durchaus moeglich ist, etwas aufzubauen, dass sich selbstversorgend nachhaltige Hilfe zur Selbsthilfe bietet.

Meine erste Woche galt der Erkundung und Einfuehrung aller einzelnen Projekte um dann anschliessend, mit ihm gemeinsam auszuarbeiten, wo ich mich am wohlsten fuehlen wuerde, aber auch, wo meine unterstuetzende Hilfe am ehesten gebraucht werde. Die Wege fuehrten mich in unzaehlige Klassenraeume, in denen 5-Jaehrige in Schuluniform gekleidete Jungen und Maedchen (nie zuvor haette ich geglaubt eine Uniformierung als so positiv und notwendig zu empfinden, denn sie laesst die Grenzen eines “arm, aermer, am aermsten” zumindest fuer wenige Stunden schwinden) erstaunt aufsprangen, um ihr Repertoire an bengalischen und englischen Reimen vorzufuehren, ja, vorzufuehren, oder zumindest empfand ich es als eben dieses und fuehtle mich in der Rolle der Besichtigenden alles andere als wohl. Die ersten Stunden habe ich ob der Abwesenheit einzelner Lehrerinnen auch schon vertreten duerfen und festgestellt, dass es fuer mich kein Leichtes werden wird, im Rahmen des auf blindes Auswendiglernen gerichteten Unterrichts einen angemessenen Platz zu finden.

So manches Mal kann ich mich des Eindrucks nicht verwehren, verspaetet von meinem PW-Buch eingesogen worden zu sein um am anderen Ende der Welt, in einer kleinen Huette eines mehrere Stunden von Kolkata entfernten Dorfes, wieder ausgespuckt zu werden. Dort nahm ich mit den 12 der 22 beteiligten Frauen an der Versammlung des seit Jahren funktionierenden Micro-Credit-Projektes Teil, welches ihnen ermoeglicht das gemeinsam ersparte Geld fuer Notfaelle durch eine vermittelnde Vertretung bei einer Bank anzulegen. Aber auch die abenteuerlichen Autorikshafahrten entlang der jungen, saftiggruenen Reisfelder und vereinzelten Palmen, hin zu den durch die YMWS ermoeglichten Wasser-pumpen, welche ganzen Dorfge-meinschaften von 700 Menschen endlich den Zugang zu sauberem Trinkwasser ermoeglichen, versetzten mich in Staunen darueber, wie die Menschen fern fremder “westlicher” Hilfe in der unertraeglichen Mittagssonne unermuedlich um ein besseres Leben kaempfen.

Die vergangenen drei Tage verbrachte ich in dieser von Einfachheit gepraegten Abgeschiedenheit, die mich jedoch mit unerschoepflicher Liebe fuer die meinen Weg kreuzenden Menschen einnimmt…, so sehr, dass ich ueberzulaufen drohe und nich fassen kann, wie gebend und aufopfernd mich zum Beispiel der Koordinator der Dorfprojekte, wieder in Kolkata angelangt, nach gemeinsamer Reise zu sich einlaedt um mich dort in dessen Wohnung, einem einzigen Zimmer, in dem die ganze Familie schlaeft, isst, lebt und liebt, mit einem koestlichen Abendbrot zu ueberraschen.

Wie anders und unerkannt diese neue Welt sich mir auch allmaehlich eroeffnen mag, ist es doch auch gleichzeitig merkwuerdig vertraut. Wohl wahr, der seinen eigenen, halsbrecherischen Regeln folgende Strassenverkehr der Stadt ist zuweil erdrueckend, wenn auch nicht minder faszinierned und die von Muell gesaeumten Strassen und das in der Luft stehende, saemtliche Geruchsnerven abtoetende Gebraeu der Duefte dieser Stadt scheinen kein Ende nehmen zu wollen; ausgehungerte Hunde, Kuehe und Menschen sammeln sich vor den duerftigen Behausungen und die starrenden Blicke der Inder sind bestaendiger Teil eines jeden Ganges und dennoch fuehle ich mich hier schon nach wenigen Tagen mehr zu Hause, als ich es waehrend meines gesamten Jahres in den USA je vermochte.

Es ist und wird alles andere als einfach sein und ich bin mir dessen bewusst, dass die auf mich niederprasselnden Guesse mir auch in Zukunft oft den Atem rauben werden, doch die Aussicht darauf, in dem sprudelnden gewaltigen Gedraenge wieder an die Oberflaeche zu tauchen und erneut rettend nach Luft schnappen zu koennen, bilden das fordernde Leben, welches ich hier mit jedem neu anbrechenden Tag zu leben bereit bin.