Dienstag, 9. September 2008

Eingesogen

Als ich das erste Mal zu Papier und Stift griff, um dem Erlebten Raum zu schaffen, fuerchtete ich, dass mein Schreiben kein Ende nehmen wuerde…, doch zunehmend begreife ich, dass es vielmehr der Versuch des “Hinterherlebens” ist, welcher die satten Tage in heisse, schlaflose, keineswegs nur vom lauten Zirpen der Grillen oder dem Konzert der vom Monsun angelockten Froesche durchzogenen Naechte wandelt und sie zu einem undurchsichtigen Ganzen werden laesst.

Kaeme ich in die Verlegenheit eine einfache Frage nach meinem Befinden beantworten zu muessen, ich wuesste wahrlich nicht, was zu antworten… Es geht mir nicht gut, nein, wie koennte es auch… Beim Streifen durch enge Gassen, entlang derer verwahrloste, einfache Huetten und Zeltplanenkonstruktionen, dicht an dicht gedraengt, ganze Grossfamilien beherbergen und mich entgegen meinen ersten Eindruecken schlagartig verstehen lassen, weshalb Shourabh Mukherjee, der Gruender der Organisation, von der Gegend, in der die Familie Mukherjee und mich behausende, gleichzeitig den Sitz von YMWS darstellende Schule gelegen ist, als einer wohlhabenderen sprach. Wie haette ich auch wissen sollen, dass das Gesicht der Armut hier sehr vielfaeltig ist und sich in einzelne Nuancen verzweigt? Ich hatte ja keine Ahung…, keine Ahnung davon, wie es sich tatsaechlich anfuehlt, wenn ein Meer grosser brauner, des Lebens zum Teil mueder Augen auf der eigenen Erscheinung brennen, so dass ich mich meiner selbst schaeme; meiner Hautfarbe, der blonden Haare, meiner Herkunft und Bildung wegen, all dem, was mir durch blosse Willkuer ungerechter Weise vergoennt, ihnen hingegen niemals zugaenglich sein wird - ja, meinem ganzen Sein, Hiersein, welches diese Menschen und mich so schonungslos mit dem Anderen konfrontiert, dass es weh tut und erdrueckt und mich selbst der Faehigkeit befreiende, wenn auch ohnmaechtige und nichts, rein gar nichts aendernde Traenen zu weinen, beraubt. Doch dies waere wohl nicht das Indien in das es mich unbekannter Weise zog, wenn nicht am gleichen Tag eine Gruppe Kindergartenkinder nach anfaenglicher Schuechternheit auf mich zugerannt kaeme, um mir neugierig und augeregt, sich nach Aufmerksamkeit verzehrend, ihre Hefte entgegenzuhalten und ein jedes Mal in frohes Lachen auszubrechen, wenn ich auf ihr Fordern hin muehevoll die benaglische Bezeichnung der Bilder von Blumen und Tieren wiederholen wuerde. Es sind unter anderem diese Momente, die neue Kraft schoepfen lassen und die abendliche, von regelmaessigen Stromausfaellen bestimmte Stille mit neuen Funken des Gluecks erfuellen… Ueberhaupt habe ich mit Mr. Mukherjee, einem bald 60 Jahre zaehlenden Mann, dessen graugelocktes, wirr den Kopf umrahmendes Haar ihn so untypisch und doch wieder sehr indisch aussehen laesst, unfassbar grosses Glueck gehabt. Vor 40 Jahren hat er es sich zur Aufgabe gemacht den aermsten der Armen durch Bildung und Aufklaerung Hoffnung auf ein besseres Leben zu ermoeglichen und mit der Hilfe von Mutter Teresa, zu der ihn eine innige, langjaehrige Freundschaft verbunden hat, Stueck um Stueck guenstig Land erworben, um erste Schulen zu errichten. Seine verbissene Arbeit, die sich jeglicher Zuschuesse von seelenlosem Geld (“cold money”) entzieht, auf eigenen Fuessen steht und neben der Schule, in der wir wohnen, neun weitere, ganz unterschiedliche Projekte eint, beeindruckt mich und zeigt nur zu deutlich, dass es durchaus moeglich ist, etwas aufzubauen, dass sich selbstversorgend nachhaltige Hilfe zur Selbsthilfe bietet.

Meine erste Woche galt der Erkundung und Einfuehrung aller einzelnen Projekte um dann anschliessend, mit ihm gemeinsam auszuarbeiten, wo ich mich am wohlsten fuehlen wuerde, aber auch, wo meine unterstuetzende Hilfe am ehesten gebraucht werde. Die Wege fuehrten mich in unzaehlige Klassenraeume, in denen 5-Jaehrige in Schuluniform gekleidete Jungen und Maedchen (nie zuvor haette ich geglaubt eine Uniformierung als so positiv und notwendig zu empfinden, denn sie laesst die Grenzen eines “arm, aermer, am aermsten” zumindest fuer wenige Stunden schwinden) erstaunt aufsprangen, um ihr Repertoire an bengalischen und englischen Reimen vorzufuehren, ja, vorzufuehren, oder zumindest empfand ich es als eben dieses und fuehtle mich in der Rolle der Besichtigenden alles andere als wohl. Die ersten Stunden habe ich ob der Abwesenheit einzelner Lehrerinnen auch schon vertreten duerfen und festgestellt, dass es fuer mich kein Leichtes werden wird, im Rahmen des auf blindes Auswendiglernen gerichteten Unterrichts einen angemessenen Platz zu finden.

So manches Mal kann ich mich des Eindrucks nicht verwehren, verspaetet von meinem PW-Buch eingesogen worden zu sein um am anderen Ende der Welt, in einer kleinen Huette eines mehrere Stunden von Kolkata entfernten Dorfes, wieder ausgespuckt zu werden. Dort nahm ich mit den 12 der 22 beteiligten Frauen an der Versammlung des seit Jahren funktionierenden Micro-Credit-Projektes Teil, welches ihnen ermoeglicht das gemeinsam ersparte Geld fuer Notfaelle durch eine vermittelnde Vertretung bei einer Bank anzulegen. Aber auch die abenteuerlichen Autorikshafahrten entlang der jungen, saftiggruenen Reisfelder und vereinzelten Palmen, hin zu den durch die YMWS ermoeglichten Wasser-pumpen, welche ganzen Dorfge-meinschaften von 700 Menschen endlich den Zugang zu sauberem Trinkwasser ermoeglichen, versetzten mich in Staunen darueber, wie die Menschen fern fremder “westlicher” Hilfe in der unertraeglichen Mittagssonne unermuedlich um ein besseres Leben kaempfen.

Die vergangenen drei Tage verbrachte ich in dieser von Einfachheit gepraegten Abgeschiedenheit, die mich jedoch mit unerschoepflicher Liebe fuer die meinen Weg kreuzenden Menschen einnimmt…, so sehr, dass ich ueberzulaufen drohe und nich fassen kann, wie gebend und aufopfernd mich zum Beispiel der Koordinator der Dorfprojekte, wieder in Kolkata angelangt, nach gemeinsamer Reise zu sich einlaedt um mich dort in dessen Wohnung, einem einzigen Zimmer, in dem die ganze Familie schlaeft, isst, lebt und liebt, mit einem koestlichen Abendbrot zu ueberraschen.

Wie anders und unerkannt diese neue Welt sich mir auch allmaehlich eroeffnen mag, ist es doch auch gleichzeitig merkwuerdig vertraut. Wohl wahr, der seinen eigenen, halsbrecherischen Regeln folgende Strassenverkehr der Stadt ist zuweil erdrueckend, wenn auch nicht minder faszinierned und die von Muell gesaeumten Strassen und das in der Luft stehende, saemtliche Geruchsnerven abtoetende Gebraeu der Duefte dieser Stadt scheinen kein Ende nehmen zu wollen; ausgehungerte Hunde, Kuehe und Menschen sammeln sich vor den duerftigen Behausungen und die starrenden Blicke der Inder sind bestaendiger Teil eines jeden Ganges und dennoch fuehle ich mich hier schon nach wenigen Tagen mehr zu Hause, als ich es waehrend meines gesamten Jahres in den USA je vermochte.

Es ist und wird alles andere als einfach sein und ich bin mir dessen bewusst, dass die auf mich niederprasselnden Guesse mir auch in Zukunft oft den Atem rauben werden, doch die Aussicht darauf, in dem sprudelnden gewaltigen Gedraenge wieder an die Oberflaeche zu tauchen und erneut rettend nach Luft schnappen zu koennen, bilden das fordernde Leben, welches ich hier mit jedem neu anbrechenden Tag zu leben bereit bin.

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