Freitag, 12. Juni 2009

traenende Regentropfen

Der Himmel war grau bedeckt, von milchigen Wolkenvorhaengen ueberzogen und das leise Tropfen des Nieselregens liess verstaerkt ein gewisses Heimatgefuehl in mir aufkommen, das mich schon vorzeitig in einen dieser verregneten Novembertage trug, an dem man am besten gar nicht erst das Bett verlaesst und sich mit einer dampfenden Tasse Tee und einem fesselnden Buch noch tiefer in die warme Decke einkuschelt. Lange hielt dieses Gefuehl jedoch nicht an und ich erwachte vollen Bewusstseins in der bruetenden Hitze meines kolkatanischen Lebens.
Doch ganz ploetzlich, von einem Moment zum anderen, wandelte sich das Bild und die frischen Windboehen hatten sich zu einem strudelnden Sturm zusammengebraut, der wild durch die Strassen peitschte und hochgewachsene Baume sowie die strohbedeckten Behausungen der Menschen gleichermassen erbarmungslos mit sich riss. Alles ging so unerwartet schnell; der Himmel verdunkelte sich zu einem beaengstigenden Schwarz, durchzogen von aufflackernden Blitzen und donnernde Regenstroeme haemmerten ohrenbetaeubend gegen die scheppernden Fenster. Die ueberschwaemmten Wasserstrassen waren menschenleer und nur vereinzelt schipperten die klapprigen Rostbusse ein wenig deplatziert gen errettender Endstation.
Durch die Flure der Schule zogen derweil stickig-giftige Rauchschwaden, da Wasser in die Elektrik geflossen war und einen Brand entfachte, der uns noch tagelang Strom- und Wasserlos hinterlassen sollte und dessen Defekt erst behoben werden konnte, als ein russverschmierter 15-jaehriger Junge in buntem T-Shirt und kurzen Hosen vor mir auftauchte, in dem verschmorten Kabelsalat herumwerkelte und mir als der Elektriker vorgestellt wurde - “Aber... aber, er ist doch noch ein Kind…!” - “So what?!”.
So what?! – ja, das habe ich mich auch gefragt, wie ich so sicher und geschuetzt vor allen Unwettern dieser Welt, mit einem Dach ueber dem Kopf im Fensterrahmen sass und Putul mir im Dunkel des Abends die Nationalhymne beibrachte, indessen es immernoch unaufhoerlich goss und wir riesige Baeume wie Streichhoelzer aechzend zu Boden krachen sahen; waehrend all die vielen, vielen unbekannten Schicksale dort draussen in eben diesem Moment nicht nur ihr zu Hause, Familie und Huette, ihr Hab und Gut, ja ihre ganze Existenz hilflos wegfliessen sahen – eine schaurige Gaensehaut hinterblieb.
Der kommende Morgen gab dem Unheil nicht nur einen Namen sondern liess auch wage vermuten, wie zerstoererisch der vollkommen unerwartete Zyklon, der jaehrlich „nur“ ueber das darauf vorbereitete Bangladesch braust, weite Teile West-Bengalens hinterliess. Das Disaster“management“ ward ein einziges Disaster, dem die demonstrierenden Menschen in Form von das gesamte Strassennetz blockierenden Aufstaenden ihren Unmut kund taten – was die Bewaeltigung des Ungluecks zusaetzlich erschwerte.
All dies liegt nunmehr fast zwei Wochen zurueck und dennoch ist der gewohnte Gang des Alltags nur in Ansaetzen zu erahnen. Waehrend die aggressive Sonne in der Stadt die Wassermassen mit ihren brennenden Armen inzwischen schon fast vollstaendig zu sich gezogen hat, der Wiederaufbau eifrig vorangeht und die letzten umgestuerzten Baeume von ungesicherten Maennlein geschwind wie in den Kronen schwingenden Aeffchen mit einer kleinen Axt zu Brennholz zerhackt werden, zeigen die wahren Ausmasse in den Doerfern mit jedem Tag mehr ihr eingefallenes Runzelgesicht.
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Nur eine zweistuendige Busfahrt suedlich von Kolkata entfernt erstrecken sich die weitlaeufigen Sumpfgebiete der Sunderbans, in die ich zusammen mit Leonie und Maren fuhr um ein paar Tage in einer anderen Organisation zu verbringen und deren Arbeitsfeld naeher kennen zu lernen. Neben der Unterhaltung eines Augenkrankenhauses, einer Hebammenstation (ueber die allein ich am liebsten Seiten fuellen wuerde) und einer Schule fuer taubstumme Kinder sind sie momentan verstaerkt mit ihren Booten im Einsatz, um betroffene Dorfgemeinschaften taeglich mit gespendeter Kleidung oder Lebensmitteln zu versorgen. Uns Freiwilligen wurde die Moeglichkeit offen gestellt sie auf einer der Fahrten zu begleiten um mit eigenen Augen sehen zu koennen, wie sich die Hilfsarbeit gestaltet und auch wenn ich mich von Beginn an als blosse Beobachterin unglaublich fehlplatziert fuehlte, befuerchtete eventuell gar zusaetzliches Ballast darzustellen, zog uns die Neugier und der Wille etwas mehr noch zu verstehen.
Je naeher wir mit der Ambulanz dem Wasser kamen, desto verherender sah die Landschaft aus: umgekippte Strommasten, an denen Unterwasser erste Raparaturen unternommen werden; ganze Fischerdoerfchen, die unter dem Wasser verschwunden waren, so dass nur die gelegentlich unwirklich hervorschauenden Zipfel der Terrakottadaecher an ein Leben davor erinnerten, ein Leben, was noch Jahre lang nicht mehr moeglich sein wird, da das salzige Wasser des Golf von Bengalen den Naehrboden der zu bestellenden Felder vollkommen ruiniert hat.
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Zusammen mit einer 30 koepfigen Gruppe indischer Maenner, unter ihnen der wohlhabende Bauer, dessen Reichtum das geladene Gut entsprang, betraten wir das Boot um die Gemeinschaften des weltgroessten Flussdeltas anzufahren, die es nach Aussage des Krisenmanagement-Bueros am noetigsten haetten. Kleidungsstuecke benoetigten sie schon nicht mehr, aber dennoch sitzten die Menschen verzweifelt wartend fest und sind darauf angewiesen ernaehrt zu werden, da das ihnen im besten Fall gebliebene und nicht mit Huhn, Ziege oder Kuh untergegangene wacklige Holzboot nur von einem Ufer zum anderen gleiten kann, sie auf Grund der starken Wasserstroemung aber nicht mehr zuruecktragen wuerde.
Und so kommen die Menschen mit dem ankuendigenden Posaunen des Schiffhorns angerannt und bilden lange Schlangen; Reihen, die mit Bambusstoecken zurueckgedraengt werden, damit Frauen und Maenner einander nicht ueberrennen und die Kostbarkeiten unkontrolliert einheimsen. Die Kinder finden sich separat zusammen und greifen aufgeregt nach den kleinen nur fuer sie gedachten Milchpulverpaeckchen.
Im Landesinneren, hinter den das Flussufer saeumenden Mangrovenwaeldern, den ihrer Art groessten dieser Erde, liegt eine noch unentdeckte Welt des Elends, eine Welt, die von den meisten Rettungsteams nicht gesehen wird, da die Zugaenge versperrt sind und die hungernden und kranken Menschen unerreichbar bleiben. Ob der verseuchten Trinkwasserbrunnen leiden tausende von ihnen an Diarhoe und die Angst vor Epidemien macht sich ueberall breit.
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Das alles war so, so absurd! Ich musste daran denken, wie ich frueher immer von meiner Oma dazu angehalten wurde mein Ferientaschengeld zur Sparkasse zu tragen um es den Flutopfern in Deutschland zu spenden ohne dass ich wirklich verstehen konnte... und nun sah ich diese Menschen am Flussufer rote Fahnen schwenken um auf sich aufmerksam zu machen. Menschen, die wirklich alles verloren haben und nicht „nur“ mit einem unter Wasser stehenden Keller zu kaempfen haben; Menschen, die auf keine ausgleichende Versicherung, keine Ersparnisse zurueckgreifen koennen und direkt in die aussichtslose Armut gespuelt wurden.
Selten habe ich wohl weniger Hunger verspuert - als ob ich ueberhaupt wuesste was es heisst hungrig zu sein - als in dem Moment, in dem wir von Bablu-Mama, einem uebergewichtigen Bengalen und, wenn er nicht gerade schnarchend in seiner Kajuete schlief, Leiter des Rettungskommitees, zum Mittagessen geladen wurden. Wie schaemte ich mich meiner selbst, unserer Sonderstellung, dem unverkennbaren Zynismus der Situation und war heilfroh, dass wir wenigstens unter dem Deck versteckt vor den Augen der anderen assen, die draussen dankbar in viel zu grossen Metallkruegen ihre sorgfaeltig in kleine Plastiktueten portionierten Reis-, Dhal- und Trinkwasserrationen entgegennahmen.

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Schwer lag mir das Essen im Magen und ich fuehlte mich so unsaglich elend. Doch was waere die Alternative gewesen? Davon, dass wir nicht gegessen haetten, waeren die Menschen auch nicht satter geworden und wie sie so am Ufer standen, uns froh und lachend zuwinkten, fragte ich mich, ob sie denn wirklich ungluecklich seien oder ob nur wir, die wir ein anderes Leben fuehren, das ihnen unerschlossen ist, unser Unglueck auf sie projezieren, denn sie kennen es ja nicht anders und wenn sie nicht mit Wirbelstuermen zu kaempfen haben, dann sind es Ueberschwemmungen oder Monate lang anhaltende Duerren... jedes Jahr aufs Neue!

Da lebe ich seit mittlerweile ueber 9 Monaten hier und auch wenn ich weit davon entfernt bin mich an irgendetwas zu gewoehnen, habe ich doch emotional damit umzugehen gelernt... und dann stehe ich an Bord eines Bootes an die Reling gelehnt und fuehle, wie der Boden mir erneut unter den Fuessen weggerissen wird. Ich spuere die Traenen der Ohnmacht in mir aufsteigen, die nichts aendern, keinen Unterschied machen und alsgleich in den salzigen Fluten untergehen wuerden und doch wuenschte ich, von ganzem Herzen, ich koennte mit ihnen nicht nur die schwere Leere, sondern auch die vernichtenden Wassermassen, das Leid und Elend wegschwemmen...

Ja,
was machen wir hier? Zusehen? Uns am Ende des Tages fuer diesen besonders lehrreichen und interessanten Ausflug bedanken? Vielleicht ist dies wirklich das Einzige, was wir “tun” koennen? Da sein! Sehen, lernen und weitertragen – um einen bewussteren und sanfteren Lebenswandel bemueht... Auch der Gruender der Organisation sprach davon, dass es wichtig sei, wenn die Dorfbewohner uns als auslaendische Freiwillige sehen wuerden, denn erst dann kaemen sie auf den Gedanken, dass auch sie etwas dazu beitragen koennten um die Situation zu lindern. Ich weiss es nicht... spuere nur, dass ich Land und Menschen naeher bin und sie fuer mich nicht mehr nur ueber den Fernseherbildschirm flimmernde Bilder sind, die nach zwei Tagen ohnehin in den Hintergrund gehuscht sind, da sie inzwischen nicht mehr von Aktualitaet oder von anderen, noch grausigeren Schlaegen abgeloest wurden. Mir waren diese Nachrichten nicht immer nur unvorstellbar sondern auch unendlich weit weg, so vollkommen ohne Bezug im Nichts vergehend. Sri Lanka, Pakistan, Guatemala, Afrika, der Irak… so weit weg… so weit und doch so nah!

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Vielleicht muessen wir wirklich hinaus in die Welt, ins Leben ziehen um zu spueren, zu sehen, riechen und schmecken und Anteil zu nehmen… uns naeher zu sein und nicht vorueberziehen zu lassen, darauf spekulierend, dass es auch am folgenden Tag wieder “die Anderen” treffen wird.