Freitag, 24. Oktober 2008

Traumspiel

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Nichts liegt mir ferner als die mir begegnende Armut zu romantisieren, doch nach dem gestrigen Tag nicht ins Schwaermen und Schwelgen zu verfallen, ist mir ganz und gar unmoeglich:

Die Fahrt „ins Dorf“ scheint mittlerweile fester Bestandteil einer jeden Woche geworden zu sein und ist eine von mir freudigst erwartete Abwechslung zu den vielen Stunden die ich in der Bibliothek; mit dem Schreiben und Tuefteln an den letzten Zuegen des Theaterstuecks; organisatorisch bedingten Gaengen oder aber mit den Kindern spielend, lernend und singend verbringe. So machten Sumita und ich uns mit dem Auftrag das Vorankommen der Schulbauten und Errichten der Trinkwasserpumpen zu ueberpruefen und zwecks des ausstehenden Reportes bildlich festzuhalten, in der Fruehe auf den Weg.

Ich liebe die Atmospaehre des langsam erwachenden Bahnhofs: ueberall spuckende, speiende, roechelnde und gurgelnde Maenner in ausgewaschenen Lungis; Frauen, die eilig ihre Kinder hinter sich herziehen; unzaehlige Bauern und Haendler, die Fruechte, Fisch, Getreide oder Stoffe in grossen geflochtenen Koerben auf ihrem Kopf ueber die Schienen von einem Gleis zum anderen tragen; kleine Staende, an denen die Verkaeufer in Akkordarbeit Glaeser auswaschen und ein Gemisch aus Kichererbsenmehl, Wasser, Gewuerzen, Chili und roher Zwiebel zum Fruehstueck anbieten; aber auch die im Gedraenge fast untergehenden, auf den Stufen immer noch schlafenden Menschen, deren Haar verfilzt und Haut vom Staub und Dreck bedeckt ganz grau ist und deren Anblick mich manches mal daran zweifeln laesst, ob sie denn ueberhaupt noch am Leben seien - Kolkata scheint selbst um 6 Uhr nicht zu ruhen.
Im Gewusel der Menschen noch die letzten Plaetze im „Ladies Compartment“ erheischend, eingebettet in die Geraeuschkulisse plappernder Frauen und dem Feilbieten der Verkaeufer, die von Abteil zu Abteil ziehen um ihre Ware anzupreisen; erreichten wir in zwei Stunden unser Ziel. Nach einem leckeren Fruehstueck, selbstgepflueckter Banane und Guave in einer der Schulen, gingen Sumita und ich unterschiedliche Wege, so dass mir die Aufgabe des Fotografierens der Kinder in den Schulklassen und der Arbeit auf den Baustellen zugesprochen wurde.
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Mit dem Fahrrad fuhr ich entlang der die Doerfer miteinanderverbindenen Strasse, die mich so saftig gruenumwuchert eher an eine Allee erinnerte, von Schule zu Schule; genoss den Wind; den Anblick der grasenden und doesenden Ziegen am Wegesrand; die an mir vorbeiratternden Rikshaws... dieses kleine grosse Stueck Freiheit.
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Klasse fuer Klasse besuchte ich die Kinder, die auch unter diesen einfachen Bedinungen, in denen in einem kuehlen Betonraum zwischen Sandsaecken und Ziegelsteinen eine Tafel nur provisorisch auf Holzbrettern errichtet wurde, tanzten, lachten, schrieben und rechneten. Auf meinem Rueckweg hielt ich an einer der Lehmhuetten an, um auch sie mit der Kamera einzufangen und wurde von der ansaessigen Toepferfamilie ueberschwaenglich dazu eingeladen einzutreten und mir ihr Handwerk genauer anzusehen, was ich den Saft einer mir gereichten frischen Kokosnuss schluerfend dankbar und uebergluecklich tat ..

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Die Schoenheit dieser Menschen und die satte Natur in den abgelegenen Doerfern zieht mich immer wieder in ihren ganz eigenen Bann, laesst mich staunen und zu gleich froehlich huepfend und springend ueber die Wiesen ziehen. Auf einem letzten taumelnd-ausgelassenen Spaziergang mit Robin-da um den schuleigenen See stellten wir fest, dass das angesammelte Wasser nicht mehr richtig in die Reisfelder abfliessen konnte und nachdem ich durch den Schlamm watend (mich nur dunkel an Blutegelwarnungen und Wuermer, die sich durch die Fusssohle in die Haut eingraben, erinnern wollend) einen neuen Kanal freigeschaufelte, hatte nicht nur ich das Beduerfnis auf immer bleiben zu koennen, sondern auch die Waescherinen, die mir amuesiert zusahen und meinten, dass es nun wahrlich keinen Grund mehr fuer mich gaebe nach Kolkata zurueckzukehren. Ja, ganz gewiss, so bald die letzten Steine ihren Platz im neu errichteten Gemaeuer gefunden haben, wird mich nichts mehr davon abhalten koennen, meine Arbeit fuer geraume Zeit in die Bilderbuchidylle zu verlagern.
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Ob des Stromausfalls ohne Licht, eng an eng gepresst im Zug sitztend, rollte ich die in den Reisfeldern untergehende Sonne bewundernd, der stickigen und doch einzigartigen Stadt wieder engegen und genoss das aufsteigende Gefuehl trotz eines wundervollen Tages wieder angekommen zu sein.
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der uns als Reiseproviant kleine, saeuerlich schmeckende Beeren flueckende Robin-da, Koordinator aller Dorfprojekte, in den ich mich mit jedem Mal ein wenig mehr verliebe.
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Nachdem ich aufgeregt, vor Erlebnissen und Tatendrang uebersprudelnd; zu neuen Ideen inspiriert, Mr. Mukherjee in einem abendlichen Gespraech von meinem Tag, der Arbeit und den Beobachtungen berichtete, stieg ich erschoepft die Treppen in den 5. Stock hinauf. .
Doch anstatt mich als gleich dem ersehnten Schlaf hingeben zu koennen, wurde ich von einer neuen Mitbewohnerin ueberrascht... Dabei glaubte ich gerade erst endueltig die Vorzuege der sich in meinem Zimmer entwickelten Nahrungskette schaetzen gelernt zu: kleine, zierliche, sowie wohlgenaehrte und schwerfaelligere Geckos, die geschwind die Wand entlanglaufen, immerzu wachsam und blitzschnell nach Mosquitos, giftig-gruenen Fliegen, der ein oder anderen Handflaechen grossen Kakerlake (als so abstossend wie immer beschrieben empfind ich sie gar nicht :)) und mancherlei anderem Krabbeltier schnappend (von denen es mehr als genug gibt); Legionen von Ameisen, die nicht nur immer dann auftauchen, wenn ich vergesse den Deckel auf ein Glas frischgepressten Limonensaft zu legen, sondern stets geschaeftig ihre Wege durch den Raum bahnen um die vom Licht der Lampe angezogenen und verbrannten Insekten auf ihren Ruecken fortzutragen. Wuerden all diese auch noch so unscheinbaren Wesen nicht besonders des Nachts beissen oder brennende Saefte verstroemen und ihre Kadaver mich am Morgen nicht einem schleiernen Umhang gleich bedecken - ich haette sie von Beginn an mit Freuden willkommen geheissen - der riesengrosse schwarze Fleck hingegen, der am Fliegennetz hing und sich als ausgewachsene Fledermaus herausstellte, haette sich auf Dauer weitaus schwieriger in den enstandenen Kreis des Lebens und Ueberlebens integrieren lassen und bedurfte daher mitternaechtlicher Befreiungsversuche... Mit ihrem flatternden Fluegelschlag in die Nacht entgleitend, entschwand auch ich diesem reichen Tag in eine Welt, die kaum farbiger als das Erlebte selbst sein koennte.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Unglaublich.

Unglaublich, was du in der so fremden Ferne erlebst, unglaublich, wie du damit zurecht kommst,
und unglaublich, wie lebendig, detailliert und doch so umfassend du das alles in Worte fassen kannst!

Jedes Wort fesselt, jeder Absatz fasziniert, Danke für diesen tollen Blog!